Wohn- und Geschäftskomplex Borsbergstraße
Neuer Stadtgrundriss einer Einkaufsstraße in Striesen

 
Städtebau:   Herbert Schneider und Kollektiv
Architekten:   Wolfgang Hänsch + Mitarbeiter, u.a. Gerhard Hölzel, Gerd Dettmar
Bauzeit:   1957- 58 (1955 Beginn Planung)
Adresse:._   Borsbergstraße / Tittmannstrraße



"Bei der Bebauung des zentralen Abschnitts der Borsbergstraße wurde erstmals in Dresden eine Großblockbauweise unter Verwendung von Ziegelschutt mit typisierten Elementen angewandt. Lange fünfstöckige Wohnzeilen (Typen G5, O 2a und b) mit Satteldächern sind jeweils unterbrochen mit Durchgängen. Am südöstlichen Ende wurde durch ein akzentuiertes achtgeschossiges Apartmenthaus (G4) ein Abschluß geschaffen. Dieser Hochhaus-Typ mit auskragendem Flachdach und dreieckig herausragenden Loggien fand noch mehrfach Verwendung als Dominante bei anderen Siedlungen. Die gegenüber den Wohngeschossen vorgesetzten Läden in den EG bilden ein belebendes Element. Die Putzflächen der Wohngeschosse wurden mit einem geometrischen Muster (farblich abgesetzt) überzogen. Obwohl es bereits damals Bedenken wegen der zu erwartenden Uniformität bei unbegrenzter Wiederholung von Typenelementen gab, konnte hier durch relativ abwechslungsreiche Gestaltung dieser Gefahr entgangen werden." (Architekturführer Dresden 1997)

Wolfgang Hänsch 2008:
"In Striesen
haben wir 1957 erstmals den Schritt von der Großblock- zur Tafelbauweise gewagt, die raumhohe Plattenbauweise getestet, wenn Sie so wollen. Mit dieser gestalterischen und konstruktiven Novität begann das eigentliche industrielle Bauen in Dresden. Leider sind durch die Sanierung wesentliche bauplastische Elemente heute überdeckt."

Das Ensemble der Borsbergstraße steht als Kulturdenkmal des Freistaates Sachsen unter Denkmalschutz.


Revolutionäre Technologie: industriell hergestellte Fertigteil-Platten

Die große Wohnungsnot in den zerstörten Großstädten erforderte ein schnelleres Bauen als der traditionelle gemauerte Bau. 1955 entschloss sich die DDR-Regierung, das Bauwesen zu industrialisieren. Die Voraussetzung dafür war eine Typisierung und damit standardisierte Vorfertigung von Gebäudeteilen. Die Typisierung war in der Sowjetunion von Nikolai Chruschtschow im Dezember 1954 in Moskau auf einer Unions-Baukonferenz als große Wende in Baupolitik postuliert worden.
Ab 1955 konzentrierte man sich auf die Herstellung von industriell hergestellten Platten. In Dresden realisierte man hier in Striesen dazu den ersten experimentellen Baukomplex. Für diese industrielle Technologie, die an Fließbandproduktion erinnert, wurden aus Tausenden von Trümmern Ziegel zu Splitt zermahlen, den man mit Zuschlagstoffen vermengte und anschließend zu Blocksteinen und Platten presste. Diese revolutionär neue Recycel-Technologie behielt man noch einige Jahre bei, bis man dann ganz zu Zementplatten überging. Ein nah gelegenes Betonwerk zwischen Müller Berset- und Berthold Brecht Straße produzierte diese neue Platten.

Die rationell vorgefertigte Plattenproduktion hatte in den Westzonen Deutschlands - u.a. mit dem Berliner Hansaviertel - einige Jahre vorher eingesetzt. Aber auch in Ostberlin wurde schon Anfang der 1950er Jahre mit typisierten Elemente experimentiert, so entstand z.B. 1953 ein erster Versuchsbau auf der Stalinallee (Block C-Nord) als Stahlbetonskelettbau in Montagebauweise.

http://de.wikipedia.org/wiki/Plattenbau


Differenzierte Bauten fürs Volk - mit urbanem Flair

Die allgegenwärtigen uniformen 5-stöckigen Wohnzeilen mit traditionellem Satteldach wurden hier, ungewöhnlich für den eher antiurbanen Charakter des DDR-Nachkriegsaufbaus nach klassischen Prinzipien des europäischen Städtebaus mit abwechslungsreichen Einzelhandelsgeschäften versehen.

Zusätzlich lockern kleine freie Plätze das Ensemble auf. Breite Bürgersteige verschaffen einen großzügigen Stadt- und Lebensraum für Fußgänger, Passanten und Stadtbürger. Aufgrund des 1957 noch geringen Autoindividualverkehr wurden Parkmöglichkeiten außer acht gelassen. Geplant waren allerdings Garagen für die Anwohner im südlichen Teil des Ensembles.

Das achtgeschossige Apartmenthaus G 4 von W. Hänsch und G. Dettmar, dessen Typus in Dresden später noch mehrmalig wiederholt wurde, beinhaltete neben den 37 Zweiraum- und 40 Einraumwohnungen im Erdgeschoss Läden für den täglichen Bedarf. Das letzte Obergeschoss erhielt an seiner Ostseite fünf Atelierräume sowie fünf dazugehörige Wohnungen für Dresdner Künstler. In der Bauzeitschrift "Deutsche Architektur" hieß es zu diesem Projekt: "Als Konstruktion wurde Querwandbauweise in Ziegelkonstruktion gewählt, die auf Grund der gleichmäßigen Aufreihung der Apartmentachsen die wirtschaftlichste Lösung brachte. Lediglich das EG wurde in Stahlbeton-Skelettbauweise ausgeführt, um freie Verkaufsräume zu schaffen. (...)
In jedem Geschoss befinden sich drei Gemeinschaftsbäder für jeweils zwölf Wohnungen."

Die städtische Atmosphäre einer funktionierenden, normalen Einkaufsstraße ist durch den guten Maßstab zwischen Gebäudehöhe und Straßenbreite, durch Durchquerungs-möglichkeiten und Platzfolgen stimmig.

Die neue Borsbergstraße fällt soziologisch auf: als eine interessante Schnittstelle zwischen der bourgeois geprägten Villenbebaung um den Fetscherplatz und dem sozialistischen Charakter der einheitlichen, volkstümlichen Hausblöcke.

Schöne Farben

"Besondere Beachtung wurde der farbigen Gestaltung der Häuser gewidmet. Farbiger Edelputz und Latexanstrich geben dem Wohngebiet eine eigene, heitere Note, die besonders im Straßenzug der Magistrale durch die reliefartige Wirkung der Paneelkonstruktion und einer vorherrschenden Farbgebung in Gelb und Blau gesteigert wird." (Zitat: "Deutsche Architektur")

Aufgelockerte grüne Stadt

Das nebenstehende Planungsbild zeigt die angestrebte parkartige Durchgrünung des neuen Wohngebietes.
Angedacht war ein geplanter Grüngürtel Richtung Müller- Berset-Straße, der allerdings nicht zur Ausführung kam. (Vergrößerung)

Lageplan:
1 - Achtgeschossiges Apartmenthaus G 4
2 - Wohnhaus G 5
3 - Wohnhaus H 3
4 - Wohnhaus H 4
5 - Wohnhaus O 1
6 - Wohnhaus O 2a
7 - Wohnhaus O 2b
8 - Wohnhaus G 3
9 - Café
10 - Kino (wurde nicht gebaut)
11 - Stationäres Kesselhaus
12 - Geplante Garagen

 


Hochhaus 2006 nach der Sanierung (Foto: TK)

 

Architekt: Wolfgang Hänsch
(1929 - 2013)

Wolfgang Hänsch war der große Architekt des Nachkriegs-Dresden. Er hat an einer Vielzahl von Bauwerken entweder mitgearbeitet oder war planender und ausführender Leiter eines Projektes. Während die Borsbergstraße in großen Teilen in den Nachwendejahren vorbildlich saniert wurde, sind andere Gebäude von ihm entweder komplett abgerissen oder werden gerade so stark überformt, dass die ursprünglichen ästhetischen und funktionalen Qualitäten nicht mehr nachvollziehbar sind (Kulturpalast). Hänsch gilt als der "Architekt der Dresdner Moderne" und hat darüber hinaus auch als Chefarchitekt den Wiederaufbau der Semperoper geleitet, sich intensiv mit historischer Bauweise beschäftigt. Seine Verdienste für Dresden und auch Sachsen allgemein wurden mit mehreren Preisen und Ausstellungen gewürdigt. Er steht in einer Reihe mit Hans Erlwein und Paul Wolf als große prägende Architekten des 20. Jahrhunderts in Dresden.


Literatur:

Scheffler Tanja: Charme und Esprit statt Monotonie. Wolfgang Hänsch und der Beginn des industriellen Wohnungsbaus in Dresden. In: Wolfgang Kil (Hrsg.): Wolfgang Hänsch - Architekt der Dresdner Moderne, Berlin 2009. S. 40-59.

Lüsch, Beate: Wohnkomplex Borsbergstraße. In: LAUDEL, Heidrun u. FRANKE, Ronald (Hrsg.) Bauen in Dresden im 19. und 20. Jahrhundert. Dresden. 1991.

DDR-Zeitschrift: Deutsche Architektur 2/ 1956 (und 1958)
Projektierung von Wohnbauten in Großblockbauweise


Linktipps :

Herbert Schneider
(1903-1970; Architekt, Stadtplaner) vor dem Bebauungsplan Dresden-Striesen mit Wohnkomplexzentrum Borsbergstraße (1955-1958; Beginn der Großblockbauweise)

Wolfgang Hänsch (Wikipedia)
(geb. 11. Jan. 1929, gest. 16.Sept. 2013)

 

Café Borsberg 1960

Borsbergstraße Planung (2. Phase)


Striesener Wohnbauvorhaben (Phase 1 der Planung- 1956) - Vergrößerung



Dresden, Krane und fertiggestellte Platten in einem Betonwerk, um 1955, Foto: Deutsche Fotothek

Gerd Dettmar, Wohnbebauung Borsbergstraße, Entwurfszeichnung Appartementhochhaus C4, 1956, Innenraumperspektive Verkaufsraum. Quelle: Sächs. Archiv für Architektur und Ingenieurbau (SAI)